“Anno Dracula” von Kim Newman
„Anno Dracula“ von Kim Newman (1992)
(dt. Ausgabe Heyne) Dark Fantasy/Crime
Wie schreibt man ein Review zu einem Kriminalroman, in dem die Identität des Mörders eine solch geniale Idee ist, dass sie zu den Gründen gehört, warum der Roman empfohlen wird? Nun, man kann einfach nur betonen, WIE gut die Idee des Autors ist und so in die M. Night Shyamalan-Falle gehen, sollte jemand von der Idee nicht so begeistert sein.
Vielleicht hat man aber auch das Glück, dass der Autor den Mörder bereits recht früh für den Leser demaskiert, so dass auch der Rezensent ihn guten Gewissens nennen kann.
– Kim Newman hatte in „Anno Dracula“ diese Gnade!
Bevor ich diesen Umstand ausnutze, zuerst ein paar Wort zur Handlung des Romans: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts herrscht Vlad Dracula als Prinzgemahl von Königin Victoria mit seinen Vampiren über das britische Empire. Sein Schreckensregime wird jedoch durch die Taten des Serienmörders „Jack the Ripper“ erschüttert, welcher des Nachts Vampirhuren mit seinem silbernen Skalpell aufschlitzt. Der menschliche Geheimagent Beauregard soll den Mörder finden und unschädlich machen.
Der Roman ist ein Sammelsurium an allem, was auch nur entfernt mit Vampiren, dem victorianischen England oder dem 19. Jahrhundert zu tun hat: Draculas Diener ist Merrick, der Elefantenmensch, der Verwalter des Towers ist Graf Orlock aus Murnaus „Nosferatu“, die Londoner Unterwelt wird beherrscht von Dr. Fu Manchu. Während Sherlock Holmes in einem Arbeitslager gefangen ist, wirkt der Amtsarzt Dr. Jekyll in letzter Zeit zunehmend erschöpfter und unkonzentrierter.
Eigentlich könnte das Review hier enden, auch ohne den Namen des Mörders zu wissen dürfte sich der geneigte Leser inzwischen eine Meinung gebildet haben, ob er ein solches Massencrossover mag oder nicht. Grundlage für den Roman war Newmans eigener Novelle „Red Reign“ (als „Dracula A.D. 1888“ in „Das große Horror-Lesebuch III“ bei Goldmann erschienen), die er für diese Langfassung mit weiteren Figuren, Wendungen und Handlungssträngen bereicherte. Ich persönlich bin mir im Unklaren, ob ich die lange oder die kurze Version bevorzuge, doch möchte ich hier den manchmal durchaus etwas weitschweifigen Roman empfehlen, da er wesentlich mehr „alte Bekannte“ enthält (und den ersten mir bekannten Auftritt eines hüpfenden chinesischen Vampirs in einer westlichen Publikation).
Nun ist es aber auch an der Zeit für mich, die Identität des Rippers bei Newman aufzudecken. Wer es dennoch nicht wissen will (obwohl es dem Werk wirklich keinen Abbruch tut), der lese einfach den nun folgenden letzten Absatz nicht. . .
Noch da? Okay: Es handelt sich um Dr. Jack (!) Seward, der nicht über den Tod seiner geliebten Lucy hinweggekommen ist. Wer Stokers original „Dracula“ gelesen hat, wird meine Begeisterung verstehen.
Dirk M. Jürgens