„Die Geschichte von dem Mann, der ungewöhnlich spitze Ohren hatte“ von Dirk M. Jürgens
Versammelt euch ums Lagerfeuer und lauschet dieser lehrreichen Geschichte aus der Welt der Fantasie und der latenten Rassenproblematik. (Copyright 2005 WeirdFiction.de)
„Die Nacht rückt näher, meine Kinder.
Die Dunkelheit legt sich über das Land, die Wölfe kommen aus ihren Höhlen und die Ghoule aus ihren Gräbern gekrochen. Um diese Zeit ist es besser, hier bei mir am Feuer zu bleiben.
Ja, meine Kinder, rückt näher und ich werde euch eine Geschichte erzählen. Es mag sein, dass sie eine Moral enthält, die dem einen oder anderen von euch etwas nutzen kann.…Ja, schon gut! Ich weiß, was die Geschichte von dem Drachentöter deinem Bruder eingebracht hat, aber ich sage dir, dass der Trottel es nicht anders verdiente, als Tatzelwurmfutter zu werden. Er hatte ja nicht mal das magische Schwert, das ich ausdrücklich erwähnt habe.
Nun gut, kommen wir zu meiner Geschichte…
Es war einmal ein junger Mann, der war groß, kräftig und schön. Er hatte langes blondes Haar, blaue Augen und gleichmäßige Zähne, er hätte also allen Grund gehabt, den Göttern dankbar zu sein, hätte er nicht diesen einen Makel gehabt, der ihn plagte: seine Ohren waren ungewöhnlich lang und liefen nach oben spitz zu!
Was denn? Ihr meint, dass wäre kein wirklicher Makel? Törichte Brut, was wisst ihr schon! Denkt doch mal nach: ein schöner junger Mann…mit langen blonden Haaren…und spitzen Ohren…?
Genau, mein Mädchen, jeder der ihn sah, hielt ihn sofort für einen Elf!
Wo immer er hinkam hieß es ‚Guten Tag, Herr Elf!’ oder ‚Na so was, in dieser Gegend sieht man aber selten Elfen!’, so dass er kaum etwas anderes tat, als zu betonen, dass er kein Elf sei. Wütend darüber verließ er schließlich sein Dorf und zog in die Welt hinaus, um…
Was?. . .Jaaa…Wenn du es so sehen willst, war es ziemlich unklug, in die Welt hinauszuziehen, weil er dadurch natürlich viel mehr Leute traf, die ihn für einen Elf hielten. Wenn es dich glücklich macht, sieh es so.
Aber wie auch immer du es siehst, so ist es nun mal mit Helden: früher oder später ziehen die meisten von ihnen in die Welt hinaus.
Nach einiger Zeit erreichte er ein gewaltiges Gebirge, dessen höchste Gipfel bis in die Wolken reichten. Als er sich daran machte, es zu erklimmen, erschienen im Eingang einer Höhle plötzlich mehrere Zwerge, die ihn wüst beschimpften: ‚He, du elender Elf!’ riefen sie, ‚Verschwinde aus unseren Bergen. Wir wollen hier keine Elfen!’
Gleichermaßen durch ihre Unfreundlichkeit, wie auch durch die erneute Verwechslung erbost, kehrte unser Held dem Gebirge den Rücken und zog weiter.
Sein Weg führte ihn durch eine endlos scheinende Wüste blauen Sandes. Dort traf er auf viele seltsame Gestalten, wie einen in Leder gekleideten Mann der seine Augen mit dunklen Glasscheiben vor der Sonne schützte und sich von Kakteen ernährte, einen Hund, dem Gras statt Fell wuchs und ein wunderschönes Mädchen mit lila Haaren. Keiner von ihnen kam auf die Ohren des Mannes zu sprechen, so dass ich mich nicht weiter damit aufhalten möchte. Überhaupt erwähne ich es nur, um euch die Gelegenheit zu geben, das Mädchen aus meiner Geschichte von neulich wiederzuerkennen, aber da habe ich euch wohl überschätzt.
Na ja, wo war ich?
Ach ja: Irgendwann hatte unser junger Mann die Wüste durchquert und kam in einen großen dunklen Wald. Dort setzte er sich in den Schatten eines Baumes, um sich von der Strapazen seiner Reise zu erholen, als zwei Elfen, die gerade auf der Jagd waren, aus dem Gebüsch traten.
‚Hallo, Landsmann!’ grüßten sie ihn, ‚Was trägst du so armselige Menschenkleider? Als Elf solltest du in edle Elfengewänder gehüllt sein.’
Wutentbrannt, dass selbst die Elfen ihn für einen der ihren hielten, sprang unser Held auf und verließ den Wald, ohne den beiden auch nur eine Antwort gegeben zu haben.
Als seine Wut allmählich verraucht war, fand er sich in einem finsteren Moor wieder; in der Ferne heulten die Geister und aus der Erde schmatzten die Nachzehrer. Doch unser Held hatte keine Angst und suchte sich mutig seinen Weg durch die Sümpfe.
Nach einiger Zeit sah er eine kleine dürre Gestalt an einem Lagerfeuer sitzen. Ihr Kopf war kahl, ihre Ohren spitz und ihre Haut von einem schmutzigen Braun – es war offenbar ein Kobold.
‚Guten Abend, Herr Kobold.’ Begann der junge Mann und wollte gerade fragen, ob er sich zu ihm ans Feuer setzen dürfe, als der Kobold furchtbar wütend wurde.
‚Sei verflucht, tölpelhafter Elf!’ brüllte er, ‚Ich bin ein Mensch und kein Kobold, ich habe nur zufällig ziemlich spitze Ohren und dunkle Haut!’
‚Und was ist mit mir?’ schrie unser Held zurück. ‚Ich bin ebenfalls ein Mensch, aber weil ich so spitze Ohren und eine helle Haut habe, hält mich jedermann für einen Elf. – Sogar du, der es doch wirklich besser wissen müsste!’
Das machte den anderen noch wütender: ‚Ja und? Dann sei doch froh, dass du trotz deiner Ohren groß und schön bist. Ich bin klein und hässlich und würde zu gerne einmal für einen Elf gehalten werden!’
Da erkannte unser Held erstmals, wie glücklich er sich doch schätzen konnte und wie froh er darüber sein konnte, wie er aussah. So verließ er die Sümpfe und ging zurück durch den Wald, durch die Wüste und kam auch am Gebirge vorbei, bis er schließlich sein Heimatdorf erreicht hatte. Dort heiratete er seine Jugendliebe, die ich vorhin vergessen habe zu erwähnen und zusammen bekamen sie viele Kinder, die allesamt normale Ohren hatten.
Na ja gut, eines hatte schon recht lange und auch ein wenig spitze Ohren, aber das lag nicht an unserem Helden, sondern dem durchreisenden Elf, den sie während eines Sturmes in ihrer Hütte übernachten ließen, aber das ist eine andere Geschichte.
So, das war’s dann auch. Ich hoffe, ihr habt was daraus gelernt, aber ich glaube es nicht. Bei euch ist wohl eh alle Mühe vergebens.
Ist jedenfalls das Essen fertig?
Ah! Es riecht schon gut. Mach mal Platz für einen alten Mann, ich hab mir mein Essen heute wieder mal redlich verdient.!