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(reviews) Bücher

John Ajvide Lindqvist: „So finster die Nacht“ (2004)

Horror (Literatur), John Ajvide Lindqvist, Schweden, Skandinavien, Vampire 31. März 2010


John Ajvide Lindqvist: So finster die Nacht

„Låt den rätte komma in“, 2004 (dt. Ausgabe Bastei Lübbe, 2007), Horror/Thriller

1981 im Stockholmer Vorort Blackeberg: Oskar Eriksson hat es nicht leicht, wird er doch in der Schule regelmässig von Jonny und dessen Spiessgesellen gehänselt, gedemütigt und geschlagen. Hilfe findet er weder bei seinen Freunden, noch bei den Lehrern, noch bei seiner alleinerziehenden und berufstätigen Mutter und schon gar nicht bei seinem Vater, einem Gelegenheits-Säufer, der die Familie schon vor Jahren verlassen hat. Dafür leidet er (also Oskar) an Inkontinenz, begeht Ladendiebstähle und lebt seine Gewaltfantasien mit einem gestohlenen Jagdmesser an wehrlosen Bäumen aus.

Da lernt er eines Tages Eli kennen, die Tochter von Håkan Bengtsson, der kürzlich in die Wohnung nebenan eingezogen ist.  Sie ist irgendwie seltsam, soll heissen, sie wäscht sich offensichtlich nicht, läuft mitten im Winter in leichter Kleidung herum, hat irgendwie hypnotische Augen, löst einen Zauberwürfel in kürzester Zeit, etc. Er verliebt sich in sie, sie wiederum beschwört ihn, sich gegen seine Peiniger mit äusserster Härte zur Wehr zu setzen.

Natürlich weiss Oskar nicht, dass Eli in Wirklichkeit ein Vampir und ihr „Vater“ der sogenannte Ritualmörder von Vällingby ist – der Fall des dreizehnjährigen Jungen, der in einem Waldstück mit durchschnittener Kehle kopfüber aufgehängt wurde, um ihn auszubluten, ist in aller Munde. Als Håkan sich weigert, erneut zu morden, muss Eli sich selbst Beute suchen – und wählt sich als Opfer Jocke. Ein entfernter Bekannter desselben, Katzennarr Gösta, beobachtet wiederrum die Tat und erzählt den Freunden des Opfers davon. Die Leiche allerdings ist spurlos verschwunden und mit Göstas Geschichte von einem mörderischen Kind kann man kaum bei der Polizei vorstellig werden, ohne für verrückt erklärt zu werden, also muss man wohl selbst was unternehmen – zumindest ist Lacke, Jockes bester Freund, dieser Meinung.

Als sich Håkan endlich wieder bereit erklärt, Eli Blut zu beschaffen, endet das Unternehmen in einer Katastrophe – er wird erwischt und versucht, sich das Leben zu nehmen, indem er sich selbst Säure ins Gesicht schüttet. Er überlebt allerdings und landet schwer entstellt im Krankenhaus. Eli muss infolge dessen wieder selber los und sucht sich als nächstes ausgerechnet Virginia aus, die Freundin Lackes.

Inzwischen muss sich Tommy, ein um ein paar Jahre älterer Kumpel Oskars, damit auseinandersetzen, dass sich seine Mutter mit einem frömmlerischen Polizisten namens Staffan eingelassen hat – für den Jugendlichen Tommy insbesondere deshalb eine kitzlige Sache, weil er einerseits über den Tod seines Vaters noch nicht hinweggekommen ist und sich andererseits mit Schnüffeln und Einbrüchen seine Zeit vertreibt. Als er schliesslich in die Vampirgeschichte hineingezogen wird, werden seine schlimmsten Albträume wahr…

Abteilung: Alter Schwede! (Und Achtung: Spoiler voraus.)

Lettherightoneinswedishbookcover

Ursprünglich war John Ajvide Lindqvist mal Zauberer, Stand-Up-Comedian, Gagschreiber für berühmtere/erfolgreichere Kollegen und hat sich als (nach eigenen Angaben untalentierter) Dramatiker versucht. Irgendwann in seinen frühen Dreissigern wurde ihm bewusst, dass er mit seiner Gesamtsituation unzufrieden ist, hat sich daran erinnert, von Kind auf ein Fan des Horror-Genres gewesen zu sein (mit einer Vorliebe für entsprechende Filme, Pulp-Magazine sowie Stephen-King-Romane) und einfach mal aus Spass an der Freude eine derartige Kurzgeschichte verfasst. Daran habe er dann so viel Gefallen gefunden, dass er prompt seinen ersten Roman schrob: „Låt den rätte komma in“ (der Titel ist eine Anspielung auf den von Lindqvist geschätzten Sänger Morrissey). In dem Buch einerseits seine Kindheit verarbeitend (er ist tatsächlich in Blackeberg aufgewachsen, viele der Figuren basieren auf realen Personen und in der Schule wurde er selbst gemobbt), beschäftigte er sich andererseits mit einem der ältesten Archetypen der unheimlichen Literatur, nämlich dem Vampir (in späteren Büchern setzte er sich dann mit Zombies, Trollen und Geistern auseinander – teils sind bereits weitere Verfilmungen im Anmarsch).

Damit stiess er in einem Land, das kaum eine entsprechende literarische Tradition hatte, etwas ganz Neues an (wobei man den düsteren Schwedenkrimi à la Mankell beinahe schon als direkten Vorgänger bezeichnen könnte). Und er hatte Erfolg damit, wurde das Buch doch zu einem ausgesprochenen Hit (nachdem Lindqvist lange Probleme hatte, einen interessierten Verlag zu finden), nicht nur in Schweden, sondern auch international. So nimmt es auch nicht wunder, dass es inzwischen eine Verfilmung gibt (nach einem Drehbuch von Lindqvist selbst), die immerhin einen Achtungserfolg verbuchen kann, *und* ein US-Remake in der Mache ist.

Aber zurück zum Buch und damit zunächst mal zu den Vampiren. Eli ist ein modernisierter Vertreter dieses alten Geschlechtes, der sich von den Schlössern und Kastellen seiner Vorgänger runter in die Vororte begeben hat (zumindest ist Skandinavien mit seinen langen Nächten und dünn besiedelten Landstrichen für jeden Vampir die logische Wahl, wenn es um den Wohnort geht) und der nicht mehr im Sarg, sondern in der Badewanne schläft. Er ist nicht der glamouröse Vampir, wie man ihn von Stoker oder Le Fanu kennt, er ist ein armseliges, ungepflegtes und stinkendes Wesen, das ohne Blutnachschub schnell abgehärmt wirkt, sich angesichts von Blut kaum unter Kontrolle hat, seine Beute brutal tötet und dabei mitunter eine Riesensauerei veranstaltet. Da ist wenig von Würde oder Grazie geblieben und die erotische Komponente fällt angesichts des äußerlich niedrigen Alters weitgehend weg.

Die klassischen, übernatürlichen Elemente des Vampirmythos gehen hier dann auch Hand in Hand mit sehr weltlichen, biologistischen Erklärungsansätzen (eine eigentümliche Mischung): Der Vampirismus an sich ist eine Art Infektion oder Krebs, der sich in seinem Wirt festsetzt, in dessen Herzen ein zweites Hirn ausbildet (deswegen der Ritus mit den Holzpflöcken) und in ihm körperliche Veränderungen auslöst. Wer befallen ist, wird empfindlich gegenüber Sonnenlicht, fällt tagsüber in eine Art Winterschlaf und bildet einen Durst aus, den nur das Blut von Menschen stillen kann; seine Sinne werden schärfer, seine kognitiven Fähigkeiten steigern sich ebenso wie seine Körperkräfte, er kann willentlich seine Hände und Füsse zu langen Krallen und seine Beisserchen zu Reisszähnen ausbilden; zudem wachsen ihm nach Bedarf dünne Häute zwischen seinen Extremitäten, die ihm das Fliegen erlauben. Auf der anderen Seite kann er Menschen hypnotisieren, durch einen Kuss Erinnerungen mit anderen teilen (eine ehrlich gesagt eher billige Variante des erzählerischen Mittels der Rückblende) und nur noch in Häuser eindringen, in die er eingeladen wird (weil er ansonsten aus allen Körperzellen zu bluten beginnt).

Dieser Krebs ist äusserst ansteckend – sobald die Infektion das Nervensystem eines Bissopfers erreicht, wird selbiges ebenfalls zum Blutsauger. Dies ist nur zu verhindern, wenn man dem Betroffenen rechtzeitig den Hals umdreht – trotzdem, es ist nicht immer ganz einfach und ein Grund, weshalb Eli jemand anders vorschickt, um Blut zu beschaffen. (Grade in Anbetracht der Zeit, in welcher der Roman spielt, fällt einem übrigens die Parallele zu AIDS auf – spätestens dann, als Oskar einmal der Verdacht beschleicht, dass er sich bei Eli angesteckt haben könnte, und in Panik verfällt.)

Im schlimmsten Falle breitet sich der Vampir-Krebs aus, obwohl der Wirt bereits tot ist – dann hat man es mit einem tatsächlich „untoten“ Wesen zu tun, einem „richtigen“ Vampir (Eli besteht auf dem Unterschied), resp. Vampir-Zombie, der vollständig von der Infektion übernommen und nur noch zu rudimentären Denken fähig, aber umso unverletzlicher und weniger von Einschränkungen bestimmt ist (kein Stress wegen Einladungen mehr). Ausgerechnet dem schwer entstellten Håkan blüht dieses Schicksal und das Ergebnis ist eine der widerlichsten und grauenerregendsten Horror-Kreaturen, die mir je untergekommen sind – eine Schande, dass diese Storyentwicklung bei der Leinwand-Adaption gänzlich aussen vor gelassen wurde (ob der Film allerdings mit einem halbgeschmolzenen kinderschändenden Zombievampir genau so erfolgreich gewesen wäre…?).

Wer also den Film gesehen hat und sich nach dem (nicht geringen) Sehvergnügen an das Buch macht, wird überrascht feststellen, dass die Geschichte für die Leinwand-Adaption *leicht* abgemildert wurde. Das fängt nicht erst bei den Vampiren an, sondern schon beim Schweden der frühen 1980er, das im Buch noch eine Art höllischer Sündenpfuhl ist, in dem ein Pädophiler wie Håkan in die Stadtbücherei von Stockholm geht, weil dort Kinderprostitution im grossen Rahmen betrieben wird. Als er sich dort von einem zwölfjährigen Jungen einen blasen lassen will, erwartet ihn eine Überraschung: „Er streckte den Daumen zur Oberlippe des Jungen aus und hob sie an. Der Junge hatte keine Zähne. Jemand hatte ihm die Zähne ausgeschlagen oder sie gezogen, damit er seine Arbeit besser verrichten konnte“ (S. 65). Wahrlich herzerwärmend.

Später wird Håkans Selbstverletzung durch Säure in allen glorreichen Details beschrieben und wie gesagt, seine Verwandlung in den Untoten sorgt für einige äusserst ekelerregendsten Schilderungen (besonders schön wird es, wenn der Subplot um Håkan mit dem in der Verfilmung weggelassenen Subplot um den Jugendlichen Tommy zusammengeführt wird – ich will jedoch nicht zuviel verraten). Bezaubernd auch Nebenschauplätze wie Göstas von Inzucht gezeichneten Katzen (als selbige schliesslich die inzwischen vampirisierte Virginia angreifen, kommt Lacke ins Spiel: „Er machte zwei Schritte nach vor und holte zu einem Tritt gegen Miriam aus. Sein Fuss versank in dem geblähten Bauch der Katze, und Lacke empfand keinen Ekel, nur Befriedigung, als der Sack mit den Eingeweiden von seinem Fuss abhob und am Heizungskörper zerschellte“ (S. 458)). Eine ausführliche Kastrationsszene gibt’s auch noch.

Sonderlich zimperlich ist das Buch jedenfalls nicht.

Doch ist der Vampirismus nicht nur für grausliche Szenen da. Gehen wir zurück an den Anfang des Buches, wo es über das in den 1950ern erbaute Blackeberg, den Hauptort der Handlung, heisst: „Die Mysterien der Vergangenheit lagen ausser Reichweite; man hatte nicht einmal eine Kirche. Ein Ort mit zehntausend Einwohnern, ohne Kirche. Das sagt so einiges über die Modernität und Rationalität dieses Orts. Es sagt so einiges darüber, wie frei man sich von den Heimsuchungen und dem Schrecken der Geschichte wähnte. Es erklärt zumindest teilweise, wie unvorbereitet man war“ (S. 8).

Es liegt nahe, den Vampir als ein Symbol für das Böse zu deuten, das heimlich in der Gesellschaft weiterlebt und ihre Mitglieder von innen infiziert, auch wenn man sich nach dem Zweiten Weltkrieg nach aussen fortschrittlich gibt und die Vergangenheit hinter sich glaubt oder gar leugnet (Schweden hatte oder hat gewisse Probleme mit der Aufarbeitung seiner nur angeblich völlig neutralen Rolle im Zweiten Weltkrieg und mit den Neonazis). Explizit verhandelt werden die weltpolitischen und wirtschaftlichen Probleme Schwedens zu der Zeit: Als im Oktober 1981 ein gestrandetes sowjetisches U-Boot vor der Küste entdeckt wurde, wuchs in dem neutralen Land die Furcht vor den Russen, die Entspannungspolitik von Premierminister Olof Palme wurde unterminiert (wobei der Konflikt dem Anschein nach auch von den Westmächten angeheizt wurde – man informiere sich auf Wikipedia und Co. über die schwedische U-Boot-Affäre). Das entsprechende Mediengetöse übertrifft selbst das zum Mord in Vällingby: „Die Leute sollten mit ihren Gedanken schon bald woanders sein und Schweden ein anderes Land werden. Eine verletzte Nation. Denn das war das Wort, das man ständig benutzte: Verletzung. Während die Phantombildähnlichen in ihren Betten liegen und über eine neue Frisur nachsinnen, ist in unmittelbarer Nähe des südschwedischen Karlskrona ein sowjetisches U-Boot auf Grund gelaufen“ (S. 119). Die erwähnten Phantombilder sind solche des Vällingbymörders, die eine Hexenjagd nach sich ziehen, die auch Leute trifft, die ihm bloss zufällig ähnlich sehen. Die Rolle und Praktiken der Medien sowie die Reaktion der Leute sind nicht das Hauptthema des Buches, laufen aber ständig nebenher.

Weiter im Text: Der reale Horror vor einem Atomkrieg schlägt sich also auf die Romanhandlung nieder, das gilt aber auch für die Folgen der Ölkrise von 1979 und der Wirtschaftskrise Anfangs der Achtziger. Lacke erscheint als der typische Sozialverlierer, arbeitslos und alkoholkrank. Wie ein Hohn wirken da die massiven Wohnblöcke von Arbeitervierteln wie Blackeberg, die zu einer Zeit entstanden sind, als Schweden wirtschaftlich noch auf der Höhe war (auch deshalb, weil der Zweite Weltkrieg kaum Schäden hinterlassen hatte) – als man sich zudem noch ein Sozialsystem leisten konnte, das nun -Anfang der Achtzigerjahre- langsam zusammenzubrechen droht. Daher Lackes eher zynische Bemerkung, dass man sich in Schweden nur auf die Strasse legen müsse, um Hilfe zu kriegen, daher seine Ausführungen zu Blackeberg, das schon in seiner Architektur einen nicht näher definierten „Fehler“ habe, der immer schlimmer werde. Wobei das Sozialsystem des „Volksheims“ auch seine Schattenseiten hatte, zeigte sich da in den schlimmsten Auswüchsen doch ein kontrollsüchtiger Staat, der seinen Bürgern vorschreibt, wie man zu leben habe (je nachdem wurden schon mal Kinder aus „unangepassten“ Familien entfernt), und in dem es Aussenseiter schwer haben.

Kommen wir auf die Tatsache zurück, dass Blackeberg ein Ort ohne Kirchen ist. Es findet sich im Buch ein religiöser Subtext, der nicht ganz einfach zu fassen ist: Auf den ersten Blick scheint da eine Rationalismus- und Säkularismus-Kritik durch. Wie oben gesagt, wird Schweden als eine Art Hölle beschrieben, in der Pädophilie, Drogenkonsum und Verbrechen grassieren – wie sollte es auch anders sein, wo es keine Kirchen gibt? Oskars Kumpel Tommy scheint den typischen Menschen dieser Gesellschaft darzustellen: Er ist ein rebellischer junger Mann, der Leim schnüffelt, Einbrüche begeht, den frommen Freund seiner Mutter (der als Polizist auch noch Vertreter der Staatsautorität ist) verachtet und schlussendlich einen Rauchbomben-Anschlag auf eine Kirche begeht (immerhin, gelegentlich betet er auch – er ist weniger ein überzeugter Atheist/Säkularist, als ein spirituell allein Gelassener). Die grauenhafte Begegnung, die er im Finale hat und die ihm den Verstand kostet, lässt sich leicht als eine Bestrafung für dieses Verhalten interpretieren. Die Nebenfigur Benke Edwards, ein Helfer in der Gerichtsmedizin, wird gar getötet, nachdem wir seine rationalistische Lebensphilosophie kennenlernen: „Er hatte so viel von dem gesehen, was der Mensch in Wahrheit, letzten Endes war, dass er eine Theorie entwickelt hatte, und die war ganz einfach. ‚Alles sitzt im Gehirn.’“ (S. 372).

Andererseits ist der gläubige Polizist Staffan keine durchwegs positive Figur (er erweist sich als ziemlich autoritär und latent gewalttätig) und ausgerechnet Eli trägt einen Namen, der sich mit „Gott“ übersetzen lässt, und wird am Schluss von Zeugen als Engel beschrieben. Geht es hier vielleicht um einen als natürlich angenommenen spirituellen Kern des Menschen, der sich bei Wegfall eines „guten“ Glaubens (dank der Aufklärung) in hässlicher Form (Frömmlerei, Fanatismus oder Sektiererei) zurück an die Oberfläche kämpft? An mehreren Stellen im Buch äussern Figuren dann auch eher konservative (Moral-)Vorstellungen, die sich gegen staatlich-neutrales Recht anstelle von „gerechter“ Rache oder gar gegen postmodernes Kunstverständnis richten. Wie gesagt: Eine Kritik an einer Gesellschaft, deren Moral nicht mehr bodenständig-christlich, sondern durch die (säkulare/postmoderne) Moderne verwischt ist?

Ein Produkt erwähnter Gesellschaft wäre dann auch Oskar: Als Scheidungskind kann er sich weder auf seine werktätige Mutter noch auf seinen saufenden Vater noch auf seinen drogennehmenden Kumpel Tommy verlassen und die Lehrer in der Schule scheinen nicht zu merken, welche Probleme ihn plagen – Ausnahme ist einzig Fernando Ávila, der gläubige (!) Sportlehrer; dessen Eingreifen kommt allerdings zu spät. Der Alkoholiker-Vater ist übrigens schon deshalb eine interessante Figur, weil er, zumindest im abgefüllten Zustand, auch eine Art Monster ist: „Der Mensch, zu dem Papa wurde, wenn er betrunken war, hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Mann, der er in nüchternem Zustand war. Daher war es ein tröstlicher Gedanke, sich Papa als Werwolf vorzustellen“ (S. 346). Vater ist das Monster im übertragenen Sinn, das Eli im tatsächlichen Sinn ist.

Zurück zu Oskar: Dessen Inkontinenz, sein Interesse für Berichte über Morde in der Zeitung, seine Klauereien und seine Allmachts- sowie Gewaltfantasien (zudem liest er Horror und Pornos, später legt er gar ein Feuer) lassen ihn als Serienkiller in Entwicklung erscheinen, der nur einen Vorwand braucht, damit sein wahres Ich ausbricht. Als er dann Eli kennenlernt, bestätigt sie ihn in seiner Aggression und empfiehlt ihm, sie auszuleben:

„[…] Schlag zurück. Hart.“

„Sie sind zu dritt.“

„Dann musst du härter zuschlagen. Benutze Waffen.“

„Ja.“

„Steine. Stöcke. Schlag sie mehr, als du dich eigentlich traust. Dann hören sie auf.“

„Und wenn sie zurückschlagen?“

„Du hast ein Messer.“

[…]

„Aber was ist, wenn sie…“

„Dann helfe ich dir“ (S. 144).

Angetrieben von diesen unterstützenden Worten setzt sich Oskar endlich zur Wehr, indem er Johnny einen Ast gegen die Schläfe knallt; Eli lobt ihn später dafür. Endlich findet der Junge Stärke und Selbstvertrauen in sich. Damit ist aber auch ein Teufelskreis der Gewalt in Gang gesetzt, der nur im Exzess (lies: im Mord) enden kann. Ist es abwegig anzunehmen, dass Eli Oskars psychopathische, mörderische Seite personifiziert? Lässt Oskar wirklich den Richtigen rein? Jedenfalls ist sie ein denkbar schlechter Einfluss auf ihn und hilft, wie gesagt, seiner Gewalttätigkeit auf die Sprünge – was aber auch ganz im Sinne des Vampirs ist. Wie sie später erzählt, hat sie Oskar beobachtet, wie er mit dem Messer hantiert – zu diesem Zeitpunkt muss ihr das Potential des Jungen aufgefallen sein. Die Geschichte mit Håkan deutet an, dass Eli dessen Pädophilie ausnützt, um einen Diener zu haben. Trotz aller Vampirkräfte ist sie immer noch ein Kind, das Hilfe braucht, jemanden, der während den Schlafphasen aufpasst, Umzüge organisieren oder eben Blut besorgen kann. Und für diese Aufgaben wäre Oskar, gerade mit seinen mörderischen Ansätzen, sicherlich nützlich.

Diesbezüglich drängt sich auch die Frage auf, inwiefern Eli Oskar möglicherweise dahingehend manipuliert, dass er ihr verfällt – oder besser gesagt ihm, denn im Laufe der Handlung stellt sich heraus, dass Eli kein Mädchen, sondern ein Junge ist, der bei seiner Vampirisierung kastriert wurde. Oskar hat gewisse Schwierigkeiten damit: „Er dachte. Dachte intensiv nach und begriff nicht, dass er in gewisser Weise akzeptieren konnte, dass sie ein Vampir war, es aber so viel schwerer sein sollte zu akzeptieren, dass sie womöglich ein Junge war. Das Wort war ihm natürlich geläufig. Schwul. Schwule Sau“ (S. 415). Allerdings ist er bis dahin längst zu sehr in Eli verliebt, um ihn zu verlassen (Kalkül des Vampirs?). Die Frage ist nun eben, inwiefern diese Liebe echt ist.

Eli hat ihn bis dahin hypnotisiert und allein schon durch Berührung Gefühle in ihm ausgelöst („Ihre Fingerspitzen berührten seine Ohren. Ruhe durchströmte Oskars Körper. Es geschehe. Es geschehe, was immer geschehen soll“ (S. 369)). Ist es wahr, wenn Eli Oskar sagt, dass er einsam sei und in Oskar eine Art Seelenverwandten sehen würde? Oder ist das gelogen, wie so vieles, was er sagt (wie er selbst zugibt)? Ist es kühle Berechnung, wenn er sich nackt zu Oskar ins Bett legt, oder ist er tatsächlich so unschuldig, wie er behauptet: „Das ist das Einzige, was ich selber wirklich seltsam finde. Was ich nicht verstehen kann. Warum ich… in gewisser Weise… nie älter werde als zwölf“ (S. 367f.). Die Frage nach seinen Beweggründen stellt sich auch, wenn man liest, dass die meisten Vampire anscheinend bald nach ihrer Infizierung Selbstmord begehen, weil sie es nicht verwinden können, dass sie morden müssen, um zu überleben (wobei es im Rahmen des Möglichen zu sein scheint, Leute als freiwillige Blutspender zu rekrutieren – das hätte man mal ausbauen können!). Eli ist allerdings eine Ausnahme: „Vielleicht lag es daran, dass er ein Kind war. Vielleicht hatte er dem Ganzen deshalb kein Ende gesetzt. Die Gewissensbisse waren schwächer als seine Lust zu leben“ (S. 522). Er muss es nicht einmal böse meinen, aber vielleicht treibt ihn sein Überlebensdrang zu einer gewissen Pragmatik. Oder er hat als Kind kein erwachsenes Moralverständnis ausgeprägt, das er dank seiner Vampirisierung in jungen Jahren auch Jahrhunderte später nicht entwickelt.

Wie auch immer sich die Sache nun wirklich verhält, spätestens als Oskar Eli gegen Lacke und damit implizit bei seiner Ermordung hilft, hat er sich auf seine Seite geschlagen. Als der Vampir ihn wiederum aus den Fängen von Johnnys psychopatischem älteren Bruder rettet, ist ihre Verbindung besiegelt. Das Happy End ist nur ein scheinbares: Im besten Falle haben sich zwei Aussenseiter gefunden, deren Seelenverwandtschaft allerdings auf Gewalttätigkeit und Mord hinausläuft. Im schlimmsten Falle manipuliert Eli Oskar ganz nach Belieben, wie er es schon mit Håkan gemacht hat, und hält ihn sich als ihm hörigen Sklaven. In beiden Fällen fragt sich, wie die Beziehung zwischen den beiden aussehen wird, wenn Jahre und Jahrzehnte ins Land gegangen sind und Oskar zu einem alten Mann wird, während Eli ewig jung bleibt. Wie stellt sich ihre Liebe dann dar?

Fazit: Die Liebesgeschichte zwischen Oskar und Eli ist keine romantische, sondern eine zerstörerische; hier haben sich keine liebenswerten Aussenseiter gefunden, sondern zwei Monster. Und das verheerende Wirken beider scheint auf eine ihrerseits verkommene Gesellschaft zurückgeführt zu sein, die ihr spirituelles/moralisches Fundament verloren hat. Diese Perspektive ist aber nicht eindeutig, gerade die Vielschichtigkeit und Ambivalenz von Charakteren und Geschichte macht den Reiz des Romans aus. Der zudem spannend geschrieben ist und einige heftige Gräuelszenen bietet. Eine empfehlenswerte Lektüre.

(Gregor Schenker)

Korrigierte Rechtschreibfehler

Vorgeschlagene Kürzungen

Stilistische Änderungen



John Ajvide Lindqvist: So finster die Nacht

„Låt den rätte komma in“, 2004 (dt. Ausgabe Bastei Lübbe, 2007), Horror/Thriller

1981 im Stockholmer Vorort Blackeberg: Oskar Eriksson hat es nicht leicht, wird er doch in der Schule regelmässig von Jonny und dessen Spiessgesellen gehänselt, gedemütigt und geschlagen. Hilfe findet er weder bei seinen Freunden, noch bei den Lehrern, noch bei seiner alleinerziehenden und berufstätigen Mutter und schon gar nicht bei seinem Vater, einem Gelegenheits-Säufer, der die Familie schon vor Jahren verlassen hat. Dafür leidet er (also Oskar) an Inkontinenz, begeht Ladendiebstähle und lebt seine Gewaltfantasien mit einem gestohlenen Jagdmesser an wehrlosen Bäumen aus.

Da lernt er eines Tages Eli kennen, die Tochter von Håkan Bengtsson, der kürzlich in die Wohnung nebenan eingezogen ist. Sie ist irgendwie seltsam, soll heissen, sie wäscht sich offensichtlich nicht, läuft mitten im Winter in leichter Kleidung herum, hat irgendwie hypnotische Augen, löst einen Zauberwürfel in kürzester Zeit, etc. Er verliebt sich in sie, sie wiederum beschwört ihn, sich gegen seine Peiniger mit äusserster Härte zur Wehr zu setzen.

Natürlich weiss Oskar nicht, dass Eli in Wirklichkeit ein Vampir und ihr „Vater“ der sogenannte Ritualmörder von Vällingby ist – der Fall des dreizehnjährigen Jungen, der in einem Waldstück mit durchschnittener Kehle kopfüber aufgehängt wurde, um ihn auszubluten, ist in aller Munde. Als Håkan sich weigert, erneut zu morden, muss Eli sich selbst Beute suchen – und wählt sich als Opfer Jocke. Ein entfernter Bekannter desselben, Katzennarr Gösta, beobachtet wiederrum die Tat und erzählt den Freunden des Opfers davon. Die Leiche allerdings ist spurlos verschwunden und mit Göstas Geschichte von einem mörderischen Kind kann man kaum bei der Polizei vorstellig werden, ohne für verrückt erklärt zu werden, also muss man wohl selbst was unternehmen – zumindest ist Lacke, Jockes bester Freund, der Meinung.

Als sich Håkan endlich wieder bereit erklärt, Eli Blut zu beschaffen, endet das Unternehmen in einer Katastrophe – er wird erwischt und versucht, sich das Leben zu nehmen, indem er sich selbst Säure ins Gesicht schüttet. Er überlebt allerdings und landet schwer entstellt im Krankenhaus. Eli muss infolge dessen wieder selber los und sucht sich als nächstes ausgerechnet Virginia aus, die Freundin Lackes.

Inzwischen muss sich Tommy, ein um ein paar Jahre älterer Kumpel Oskars, damit auseinandersetzen, dass sich seine Mutter mit einem frömmlerischen Polizisten namens Staffan, eingelassen hat – für den Jugendlichen Tommy insbesondere deshalb eine kitzlige Sache, weil er einerseits über den Tod seines Vaters noch nicht hinweggekommen ist und sich andererseits mit Schnüffeln und Einbrüchen seine Zeit vertreibt. Als er schliesslich in die Vampirgeschichte mit hineingezogen wird, werden seine schlimmsten Albträume wahr…

Abteilung: Alter Schwede! (Und Achtung: Spoiler voraus.)

Ursprünglich war John Ajvide Lindqvist mal Zauberer, Stand-Up-Comedian, Gagschreiber für berühmtere/erfolgreichere Kollegen und hat sich als (nach eigenen Angaben untalentierter) Dramatiker versucht. Irgendwann in seinen frühen Dreissigern wurde ihm bewusst, dass er mit seiner Gesamtsituation unzufrieden ist, hat sich daran erinnert, von Kind auf ein Fan des Horror-Genres gewesen zu sein (mit einer Vorliebe für entsprechende Filme, Pulp-Magazine sowie Stephen-King-Romane) und einfach mal aus Spass an der Freude eine solche Kurzgeschichte verfasst. Daran habe er dann so viel Gefallen gefunden, dass er prompt seinen ersten Roman schrob: „Låt den rätte komma in“ (der Titel ist eine Anspielung auf den von Lindqvist geschätzten Sänger Morrissey). In dem Buch einerseits seine Kindheit verarbeitend (er ist tatsächlich in Blackeberg aufgewachsen, viele der Figuren basieren auf realen Personen und in der Schule wurde er selbst gemobbt), beschäftigte er sich andererseits mit einem der ältesten Archetypen der unheimlichen Literatur, nämlich dem Vampir (in späteren Büchern setzte er sich dann mit Zombies, Trollen und Geistern auseinander – teils sind bereits weitere Verfilmungen im Anmarsch).

Damit stiess er in einem Land, das kaum eine entsprechende literarische Tradition hatte, etwas ganz Neues an (wobei man den düsteren Schwedenkrimi à la Mankell beinahe schon als direkten Vorgänger bezeichnen könnte). Und er hatte Erfolg damit, wurde das Buch doch zu einem ausgesprochenen Hit (nachdem Lindqvist lange Probleme hatte, einen interessierten Verlag zu finden), nicht nur in Schweden, sondern auch international. So nimmt es auch nicht wunder, dass es inzwischen eine Verfilmung gibt (nach einem Drehbuch von Lindqvist selbst), die immerhin einen Achtungserfolg verbuchen kann, *und* ein US-Remake in der Mache ist.

Aber zurück zum Buch und damit zunächst mal zu den Vampiren. Eli ist ein modernisierter Vertreter dieses alten Geschlechtes, der sich von den Schlössern und Kastellen seiner Vorgänger runter in die Vororte begeben hat (zumindest ist Skandinavien mit seinen langen Nächten und den dünn besiedelten Gebieten für jeden Vampir die logische Wahl, wenn es um den Wohnort geht) und der nicht mehr im Sarg, sondern in der Badewanne schläft. Er ist nicht der glamouröse Vampir, wie man ihn von Stoker oder Le Fanu kennt, er ist ein armseliges, ungepflegtes und stinkendes Wesen, das ohne Blutnachschub schnell abgehärmt wirkt, sich angesichts von Blut kaum unter Kontrolle hat, seine Beute brutal tötet und dabei mitunter eine Riesensauerei veranstaltet. Da ist wenig von Würde oder Grazie geblieben und die erotische Komponente fällt angesichts des äußerlich niedrigen Alters weitgehend weg.

Die klassischen, übernatürlichen Elemente des Vampirmythos gehen hier dann auch Hand in Hand mit sehr weltlichen, biologistischen Erklärungsansätzen (eine eigentümliche Mischung): Der Vampirismus an sich ist eine Art Infektion oder Krebs, der sich in seinem Wirt festsetzt, in dessen Herzen ein zweites Hirn ausbildet (deswegen der Ritus mit den Holzpflöcken) und in ihm körperliche Veränderungen auslöst. Wer befallen ist, wird empfindlich gegenüber Sonnenlicht, fällt tagsüber in eine Art Winterschlaf und bildet einen Durst aus, den nur das Blut von Menschen stillen kann; seine Sinne werden schärfer, seine kognitiven Fähigkeiten steigern sich ebenso wie seine Körperkräfte, er kann willentlich seine Hände und Füsse zu langen Krallen und seine Beisserchen zu Reisszähnen ausbilden; zudem wachsen ihm nach Bedarf dünne Häute zwischen seinen Extremitäten, die ihm das Fliegen erlauben. Auf der anderen Seite kann er Menschen hypnotisieren, durch einen Kuss Erinnerungen mit anderen teilen (eine ehrlich gesagt eher billige Variante des erzählerischen Mittels der Rückblende) und nur noch in Häuser eindringen, in die er eingeladen wird (weil er ansonsten aus allen Körperzellen zu bluten beginnt).

Dieser Krebs ist äusserst ansteckend – sobald die Infektion das Nervensystem eines Bissopfers erreicht, wird selbiges ebenfalls zum Blutsauger. Kann man nur verhindern, indem man dem Betroffenen zum Beispiel rechtzeitig den Hals umdreht – trotzdem, es ist nicht immer ganz einfach und ein Grund, weshalb Eli jemand anders vorschickt, um Blut zu beschaffen. (Grade in Anbetracht der Zeit, in welcher der Roman spielt, fällt einem übrigens die Parallele zu AIDS auf – spätestens dann, als Oskar einmal der Verdacht beschleicht, dass er sich bei Eli angesteckt haben könnte, und in Panik verfällt.)

Im schlimmsten Falle breitet sich der Vampir-Krebs aus, obwohl der Wirt bereits tot ist – dann hat man es mit einem tatsächlich „untoten“ Wesen zu tun, einem „richtigen“ Vampir (Eli besteht auf dem Unterschied), resp. Vampir-Zombie, der vollständig von der Infektion übernommen und nur noch zu rudimentären Denken fähig, aber umso unverletzlicher und weniger von Einschränkungen bestimmt ist (kein Stress wegen Einladungen mehr). Ausgerechnet dem schwer entstellten Håkan blüht dieses Schicksal und das Ergebnis ist eine der widerlichsten und grauenerregendsten Horror-Kreaturen, die mir je untergekommen sind – eine Schande, dass diese Storyentwicklung bei der Leinwand-Adaption gänzlich aussen vor gelassen wurde (ob der Film allerdings mit einem halbgeschmolzenen kinderschändenden Zombievampir genau so erfolgreich gewesen wäre…).

Wer also den Film gesehen hat und sich nach dem (nicht geringen) Sehvergnügen an das Buch macht, wird überrascht feststellen, dass die Geschichte für die Leinwand-Adaption *leicht* abgemildert wurde. Das fängt nicht erst bei den Vampiren an, sondern schon beim Schweden der frühen 1980er, das im Buch noch eine Art höllischer Sündenpfuhl ist, in dem ein Pädophiler wie Håkan in die Stadtbücherei von Stockholm geht, weil dort Kinderprostitution im grossen Rahmen betrieben wird. Als er sich dort von einem zwölfjährigen Jungen einen blasen lassen will, erwartet ihn eine Überraschung: „Er streckte den Daumen zur Oberlippe des Jungen aus und hob sie an. Der Junge hatte keine Zähne. Jemand hatte ihm die Zähne ausgeschlagen oder sie gezogen, damit er seine Arbeit besser verrichten konnte“ (S. 65). Wahrlich herzerwärmend.

Später wird Håkans Selbstverletzung durch Säure in allen glorreichen Details beschrieben und wie gesagt, seine Verwandlung in den Untoten sorgt für einige äusserst ekelerregendsten Schilderungen (besonders schön wird es, wenn der Subplot um Håkan mit dem in der Verfilmung weggelassenen Subplot um den Jugendlichen Tommy zusammengeführt wird – ich will jedoch nicht zuviel verraten). Bezaubernd auch Nebenschauplätze wie Göstas von Inzucht gezeichneten Katzen (als selbige schliesslich die inzwischen vampirisierte Virginia angreifen, kommt Lacke ins Spiel: „Er machte zwei Schritte nach vor und holte zu einem Tritt gegen Miriam aus. Sein Fuss versank in dem geblähten Bauch der Katze, und Lacke empfand keinen Ekel, nur Befriedigung, als der Sack mit den Eingeweiden von seinem Fuss abhob und am Heizungskörper zerschellte“ (S. 458)). Eine ausführliche Kastrationsszene gibt’s auch noch.

Sonderlich zimperlich ist das Buch jedenfalls nicht.

Doch ist der Vampirismus nicht nur für grausliche Szenen da. Gehen wir zurück an den Anfang des Buches, wo es über das in den 1950ern erbaute Blackeberg, den Hauptort der Handlung, heisst: „Die Mysterien der Vergangenheit lagen ausser Reichweite; man hatte nicht einmal eine Kirche. Ein Ort mit zehntausend Einwohnern, ohne Kirche. Das sagt so einiges über die Modernität und Rationalität dieses Orts. Es sagt so einiges darüber, wie frei man sich von den Heimsuchungen und dem Schrecken der Geschichte wähnte. Es erklärt zumindest teilweise, wie unvorbereitet man war“ (S. 8).

Es liegt nahe, den Vampir als ein Symbol für das Böse zu deuten, das heimlich in der Gesellschaft weiterlebt und ihre Mitglieder von innen infiziert, auch wenn man sich nach dem Zweiten Weltkrieg nach aussen fortschrittlich gibt und die Vergangenheit hinter sich glaubt oder gar leugnet (Schweden hatte oder hat gewisse Probleme mit der Aufarbeitung seiner nur angeblich völlig neutralen Rolle im Zweiten Weltkrieg und mit den Neonazis). Explizit verhandelt werden die weltpolitischen und wirtschaftlichen Probleme Schwedens zu der Zeit: Als im Oktober 1981 ein gestrandetes sowjetisches U-Boot vor der Küste entdeckt wurde, wuchs in dem neutralen Land die Furcht vor den Russen, die Entspannungspolitik von Premierminister Olof Palme wurde unterminiert (wobei der Konflikt dem Anschein nach auch von den Westmächten angeheizt wurde – man informiere sich auf Wikipedia und Co. über die schwedische U-Boot-Affäre). Das entsprechende Mediengetöse übertrifft selbst das zum Mord in Vällingby: „Die Leute sollten mit ihren Gedanken schon bald woanders sein und Schweden ein anderes Land werden. Eine verletzte Nation. Denn das war das Wort, das man ständig benutzte: Verletzung. Während die Phantombildähnlichen in ihren Betten liegen und über eine neue Frisur nachsinnen, ist in unmittelbarer Nähe des südschwedischen Karlskrona ein sowjetisches U-Boot auf Grund gelaufen“ (S. 119). Die erwähnten Phantombilder sind solche des Vällingbymörders, die eine Hexenjagd nach sich ziehen, die auch Leute trifft, die ihm bloss zufällig ähnlich sehen. Die Rolle und Praktiken der Medien sowie die Reaktion der Leute sind nicht das Hauptthema des Buches, laufen aber ständig nebenher.

Weiter im Text: Der reale Horror vor einem Atomkrieg schlägt sich also auf die Romanhandlung nieder, das gilt aber auch für die Folgen der Ölkrise von 1979 und der Wirtschaftskrise Anfangs der Achtziger. Lacke erscheint als der typische Sozialverlierer, arbeitslos und alkoholkrank. Wie ein Hohn wirken da die massiven Wohnblöcke von Arbeitervierteln wie Blackeberg, die zu einer Zeit entstanden sind, als Schweden wirtschaftlich noch auf der Höhe war (auch deshalb, weil der Zweite Weltkrieg kaum Schäden hinterlassen hatte) – als man sich zudem noch ein Sozialsystem leisten konnte, das nun -Anfang der Achtzigerjahre- langsam zusammenzubrechen droht. Daher Lackes eher zynische Bemerkung, dass man sich in Schweden nur auf die Strasse legen müsse, um Hilfe zu kriegen, daher seine Ausführungen zu Blackeberg, das schon in seiner Architektur einen nicht näher definierten „Fehler“ habe, der immer schlimmer werde. Wobei das Sozialsystem des „Volksheims“ auch seine Schattenseiten hatte, zeigte sich da in den schlimmsten Auswüchsen doch ein kontrollsüchtiger Staat, der seinen Bürgern vorschreibt, wie man zu leben habe (je nachdem wurden schon mal Kinder aus „unangepassten“ Familien entfernt), und in dem es Aussenseiter schwer haben.

Kommen wir auf die Tatsache zurück, dass Blackeberg ein Ort ohne Kirchen ist. Es findet sich im Buch ein religiöser Subtext, der nicht ganz einfach zu fassen ist: Auf den ersten Blick scheint da eine Rationalismus- und Säkularismus-Kritik durch. Wie oben gesagt, wird Schweden als eine Art Hölle beschrieben, in der Pädophilie, Drogenkonsum und Verbrechen grassieren – wie sollte es auch anders sein, wo es keine Kirchen gibt? Oskars Kumpel Tommy scheint den typischen Menschen dieser Gesellschaft darzustellen: Er ist ein rebellischer junger Mann, der Leim schnüffelt, Einbrüche begeht, den frommen Freund seiner Mutter (der als Polizist auch noch Vertreter der Staatsautorität ist) verachtet und schlussendlich einen Rauchbomben-Anschlag auf eine Kirche begeht (immerhin, gelegentlich betet er auch – er ist weniger ein überzeugter Atheist/Säkularist, als ein spirituell allein Gelassener). Die grauenhafte Begegnung, die er im Finale hat und die ihm den Verstand kostet, lässt sich leicht als eine Bestrafung für dieses Verhalten interpretieren. Die Nebenfigur Benke Edwards, ein Helfer in der Gerichtsmedizin, wird gar getötet, nachdem wir seine rationalistische Lebensphilosophie kennenlernen: „Er hatte so viel von dem gesehen, was der Mensch in Wahrheit, letzten Endes war, dass er eine Theorie entwickelt hatte, und die war ganz einfach. ‚Alles sitzt im Gehirn.’“ (S. 372).

Andererseits ist der gläubige Polizist Staffan keine durchwegs positive Figur (er erweist sich als ziemlich autoritär und latent gewalttätig) und ausgerechnet Eli trägt einen Namen, der sich mit „Gott“ übersetzen lässt, und wird am Schluss von Zeugen als Engel beschrieben. Geht es hier vielleicht um einen als natürlich angenommenen spirituellen Kern des Menschen, der sich bei Wegfall eines „guten“ Glaubens (dank der Aufklärung) in hässlicher Form (Frömmlerei, Fanatismus oder Sektiererei) zurück an die Oberfläche kämpft? An mehreren Stellen im Buch äussern Figuren dann auch eher konservative (Moral-)Vorstellungen, die sich gegen staatlich-neutrales Recht anstelle von „gerechter“ Rache oder gar gegen postmodernes Kunstverständnis richten. Wie gesagt: Eine Kritik an einer Gesellschaft, deren Moral nicht mehr bodenständig-christlich, sondern durch die (säkulare/postmoderne) Moderne verwischt ist?

Ein Produkt erwähnter Gesellschaft wäre dann auch Oskar: Als Scheidungskind kann er sich weder auf seine werktätige Mutter noch auf seinen saufenden Vater noch auf seinen drogennehmenden Kumpel Tommy verlassen und die Lehrer in der Schule scheinen nicht zu merken, welche Probleme ihn plagen – Ausnahme ist einzig Fernando Ávila, der gläubige (!) Sportlehrer; dessen Eingreifen kommt allerdings zu spät. Der Alkoholiker-Vater ist übrigens schon deshalb eine interessante Figur, weil er, zumindest im abgefüllten Zustand, auch eine Art Monster ist: „Der Mensch, zu dem Papa wurde, wenn er betrunken war, hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Mann, der er in nüchternem Zustand war. Daher war es ein tröstlicher Gedanke, sich Papa als Werwolf vorzustellen“ (S. 346). Vater ist das Monster im übertragenen Sinn, das Eli im tatsächlichen Sinn ist.

Zurück zu Oskar: Dessen Inkontinenz, sein Interesse für Berichte über Morde in der Zeitung, seine Klauereien und seine Allmachts- sowie Gewaltfantasien (zudem liest er Horror und Pornos, später legt er gar ein Feuer) lassen ihn als Serienkiller in Entwicklung erscheinen, der nur einen Vorwand braucht, damit sein wahres Ich ausbricht. Als er dann Eli kennenlernt, bestätigt sie ihn in seiner Aggression und empfiehlt ihm, sie auszuleben:

„[…] Schlag zurück. Hart.“

„Sie sind zu dritt.“

„Dann musst du härter zuschlagen. Benutze Waffen.“

„Ja.“

„Steine. Stöcke. Schlag sie mehr, als du dich eigentlich traust. Dann hören sie auf.“

„Und wenn sie zurückschlagen?“

„Du hast ein Messer.“

[…]

„Aber was ist, wenn sie…“

„Dann helfe ich dir“ (S. 144).

Angetrieben von diesen unterstützenden Worten setzt sich Oskar endlich zur Wehr, indem er Johnny einen Ast gegen die Schläfe knallt; Eli lobt ihn später dafür. Endlich findet der Junge Stärke und Selbstvertrauen in sich. Damit ist aber auch ein Teufelskreis der Gewalt in Gang gesetzt, der nur im Exzess (lies: im Mord) enden kann. Ist es abwegig anzunehmen, dass Eli Oskars psychopathische, mörderische Seite personifiziert? Lässt Oskar wirklich den Richtigen rein? Jedenfalls ist sie ein denkbar schlechter Einfluss auf ihn und hilft, wie gesagt, seiner Gewalttätigkeit auf die Sprünge – was aber auch ganz im Sinne des Vampirs ist. Wie sie später erzählt, hat sie Oskar beobachtet, wie er mit dem Messer hantiert – zu diesem Zeitpunkt muss ihr das Potential des Jungen aufgefallen sein. Die Geschichte mit Håkan deutet an, dass Eli dessen Pädophilie ausnützt, um einen Diener zu haben. Trotz aller Vampirkräfte ist sie immer noch ein Kind, das Hilfe braucht, jemanden, der während den Schlafphasen aufpasst, Umzüge organisieren oder eben Blut besorgen kann. Und für diese Aufgaben wäre Oskar, gerade mit seinen mörderischen Ansätzen, sicherlich nützlich.

Diesbezüglich drängt sich auch die Frage auf, inwiefern Eli Oskar möglicherweise dahingehend manipuliert, dass er ihr verfällt – oder besser gesagt ihm, denn im Laufe der Handlung stellt sich heraus, dass Eli kein Mädchen, sondern ein Junge ist, der bei seiner Vampirisierung kastriert wurde. Oskar hat gewisse Schwierigkeiten damit: „Er dachte. Dachte intensiv nach und begriff nicht, dass er in gewisser Weise akzeptieren konnte, dass sie ein Vampir war, es aber so viel schwerer sein sollte zu akzeptieren, dass sie womöglich ein Junge war. Das Wort war ihm natürlich geläufig. Schwul. Schwule Sau“ (S. 415). Allerdings ist er bis dahin längst zu sehr in Eli verliebt, um ihn zu verlassen (Kalkül des Vampirs?). Die Frage ist nun eben, inwiefern diese Liebe echt ist.

Eli hat ihn bis dahin hypnotisiert und allein schon durch Berührung Gefühle in ihm ausgelöst („Ihre Fingerspitzen berührten seine Ohren. Ruhe durchströmte Oskars Körper. Es geschehe. Es geschehe, was immer geschehen soll“ (S. 369)). Ist es wahr, wenn Eli Oskar sagt, dass er einsam sei und in Oskar eine Art Seelenverwandten sehen würde? Oder ist das gelogen, wie so vieles, was er sagt (wie er selbst zugibt)? Ist es kühle Berechnung, wenn er sich nackt zu Oskar ins Bett legt, oder ist er tatsächlich so unschuldig, wie er behauptet: „Das ist das Einzige, was ich selber wirklich seltsam finde. Was ich nicht verstehen kann. Warum ich… in gewisser Weise… nie älter werde als zwölf“ (S. 367f.). Die Frage nach seinen Beweggründen stellt sich auch, wenn man liest, dass die meisten Vampire anscheinend bald nach ihrer Infizierung Selbstmord begehen, weil sie es nicht verwinden können, dass sie morden müssen, um zu überleben (wobei es im Rahmen des Möglichen zu sein scheint, Leute als freiwillige Blutspender zu rekrutieren – das hätte man mal ausbauen können!). Eli ist allerdings eine Ausnahme: „Vielleicht lag es daran, dass er ein Kind war. Vielleicht hatte er dem Ganzen deshalb kein Ende gesetzt. Die Gewissensbisse waren schwächer als seine Lust zu leben“ (S. 522). Er muss es nicht einmal böse meinen, aber vielleicht treibt ihn sein Überlebensdrang zu einer gewissen Pragmatik. Oder er hat als Kind kein erwachsenes Moralverständnis ausgeprägt, das er dank seiner Vampirisierung in jungen Jahren auch Jahrhunderte später nicht entwickelt.

Wie auch immer sich die Sache nun wirklich verhält, spätestens als Oskar Eli gegen Lacke und damit implizit bei seiner Ermordung hilft, hat er sich auf seine Seite geschlagen. Als der Vampir ihn wiederum aus den Fängen von Johnnys psychopatischem älteren Bruder rettet, ist ihre Verbindung besiegelt. Das Happy End ist nur ein scheinbares: Im besten Falle haben sich zwei Aussenseiter gefunden, deren Seelenverwandtschaft allerdings auf Gewalttätigkeit und Mord hinausläuft. Im schlimmsten Falle manipuliert Eli Oskar ganz nach Belieben, wie er es schon mit Håkan gemacht hat, und hält ihn sich als ihm hörigen Sklaven. In beiden Fällen fragt sich, wie die Beziehung zwischen den beiden aussehen wird, wenn Jahre und Jahrzehnte ins Land gegangen sind und Oskar zu einem alten Mann wird, während Eli ewig jung bleibt. Wie stellt sich ihre Liebe dann dar?

Fazit: Die Liebesgeschichte zwischen Oskar und Eli ist keine romantische, sondern eine zerstörerische; hier haben sich keine liebenswerten Aussenseiter gefunden, sondern zwei Monster. Und das verheerende Wirken beider scheint auf eine ihrerseits verkommene Gesellschaft zurückgeführt zu sein, die ihr spirituelles/moralisches Fundament verloren hat. Diese Perspektive ist aber nicht eindeutig, gerade die Vielschichtigkeit und Ambivalenz von Charakteren und Geschichte macht den Reiz des Romans aus. Der zudem spannend geschrieben ist und einige heftige Gräuelszenen bietet. Eine empfehlenswerte Lektüre.

(Gregor Schenker)

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